Ärztepfusch:
Der lange Weg zur Gerechtigkeit


»Wenn dir unterwegs Buddha begegnet, schlag ihn tot.« Dieser Rat aus dem Zen-Buddhismus zum Umgang mit falschen Propheten lässt sich auch auf die Juristen übertragen, die sich in der Rolle legalistischer Unantastbarkeit gefallen. Ebenso gilt auch für manche Götter in Weiß, dass ihre Macht in den Kliniken fast absolut ist. Wenn der Bürger an der Richtigkeit ärztlicher Entscheidungen zu zweifeln beginnt, erntet so mancher Ärztepfusch-Patient dasselbe ungläubige, aber unnahbare Lächeln, das viele Bürger aus den Gerichtssälen kennen, wenn sie Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils artikulieren. Kompliziert wird es, wenn sich die Pfade der Unantastbaren kreuzen: wenn Richter über etwaige Fehler von Medizinern zu urteilen haben. Meist sind die Opfer medizinischen Versagens gleich doppelt traumatisiert. Sie haben nicht nur den Glauben an die Arzte, sondern auch an die Justiz verloren. [...]

Hohe Fallzahlen bei Ärztepfusch?

Nach Untersuchungen des amerikanischen Institute of Medicine sterben allein in den USA alljährlich bis zu 98 000 Menschen an Behandlungsfehlern bei ihrem Krankenhausaufenthalt. In Deutschland sei die Situation »ähnlich«, meint der Präsident der Deutschen Chirurgischen Gesellschaft Matthias Rothmund.41 Nach einer im April 2007 veröffentlichten Studie des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, die vom Gesundheitsministerium finanziert wurde, sterben bis zu 17 000 Patienten jährlich wegen Behandlungsfehlern alleine in deutschen Krankenhäusern. Ursachen seinen falsche Behandlungen, mangelnde Sorgfalt und Schlampereien. Australische und englische Studien ergaben, dass zwischen zwölf und sechzehn Prozent der Klinikpatienten bei ihrer Behandlung »ein unerwünschtes Ergebnis widerfährt«. In Deutschland gehört das Risiko, an Behandlungsfehlern im Krankenhaus zu sterben, zu den zehn häufigsten Todesursachen - noch vor Aids und Brustkrebs. Insgesamt sterben in Deutschland mehr Menschen durch Ärztepfusch als im Straßenverkehr.42 Überträgt man allerdings die Zahlen der amerikanischen Studie auf Deutschland, würden hier entsprechend zur Bevölkerungszahl jährlich zirka 30 000 Menschen an Behandlungsfehlern sterben. Das heißt, eine Kleinstadt würde ausgelöscht.

[...]

Um Gerechtigkeit für Menschen, die Ärztepfusch ausgesetzt waren, zu erwirken, hat eine couragierte Mutter im Jahr 2004 die als gemeinnützig anerkannte Alexandra-Lang-Stiftung ins Leben gerufen. Die Gründerin Ilse Lang, Mitinhaberin einer Industriegruppe mit Sitz in Rheinland-Pfalz, ist selbst Betroffene. Ihre Tochter Alexandra stirbt überraschend mit gerade dreißig Jahren, als sie im Jahr 2000 von einem routinemäßigen Arztbesuch kommt. Eigentlich hatte sie nur eine Infusion bekommen, da sie sich etwas schlapp gefühlt hatte. In der Arztpraxis verabreichte man ihr eine so genannte Mayr'sche Lösung. Dahinter verbirgt sich eine harmlose Kochsalzlösung, der Vitamine und Spurenelemente beigemischt sind. Doch als sie kurz nach der Verabreichung zu Hause angekommen ist, krümmt sich die junge Frau vor Schmerzen. Schmerzen, die nicht enden wollen. Schließlich alarmiert sie über Handy ihren Arzt, der sofort zu ihr eilt.
Jetzt geht alles ganz schnell, ein Rettungswagen bringt sie am 18. August 2000 in einWormser Krankenhaus. Aus der Schmerzbehandlung wird ein Ringen um Leben und Tod. Trotz der eingeleiteten Stabilisierungsmaßnahmen verschlechtert sich der Gesundheitszustand der jungen Frau. Es kommt schließlich zum Kreislaufversagen. Der Körper baut immer mehr ab. Eine Woche nach der Einweisung stellen sich Zeichen eines massiven Hirnödems ein, das sich trotz intensiver Therapieversuche nicht verbessert. Am 4. September 2000 stirbt die Patientin. Die gerichtsmedizinische Obduktion ergibt das Bild eines schweren Multiorganversagens. Alexandras Körper ist durch Citrobacter freundii total vergiftet. Dahinter verbergen sich Stäbchenbakterien. Aufgrund der auffallend engen zeitlichen Verknüpfung zwischen der Verabreichung der Mayr'schen Lösung und dem Zusammenbruch ihrer Tochter hegt die Mutter den Verdacht eines Behandlungsfehlers: »Mir drängte sich der Gedanke auf, dass die Infusionslösung bakteriell verunreinigt gewesen sein muss«, sagte Ilsa Lang.47
Nach bisher gängiger Auffassung von Medizinern sollen die Bakterien vor allem durch den Genuss von verfallenem Essen oder Getränken auftauchen.48 Doch es gibt neue medizinische Erkenntnisse, wonach verunreinigte Lösungen eine zentrale Grundlage der Erreger sind - insbesondere Infusionen. Der Tod ihrer Tochter soll nicht umsonst gewesen sein. Für Ilse Lang wird klar, dass sie anderen Menschen in ähnlichen Situationen helfen möchte. Aus diesem Grund bietet ihre Stiftung heute betroffenen Patienten Beratung - medizinische und juristische. Vorstandsmitglied Richard Rickelmann, der die Betroffenen betreut, betont: »Eine gute juristische Betreuung ist besonders wichtig, denn ist ein Anwalt im Arzthaftungsrecht nicht bewandert, erleben die Patienten nach dem medizinischen oft noch ein juristisches Desaster.« Zu einer Verurteilung kommt es nämlich nur dann, wenn dem behandelnden Arzt ein Behandlungsfehler nachgewiesen werden kann. Weitere Voraussetzung für eine Verurteilung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden.
Die Erfahrung zeige, dass sich der Ursachenzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und gesundheitlichem Schaden häufig nicht zweifelsfrei nachweisen lasse, sagt Rickelmann. Ein Grund, warum er den Betroffenen empfiehlt, von einer Strafanzeige abzusehen und stattdessen den zivilrechtlichen Weg zu beschreiten. Denn während im Strafrecht der Grundsatz »in dubio pro reo« (im Zweifel für den Angeklagten) gelte, kämen dem geschädigten Patienten im Zivilrecht umfangreiche Beweiserleichterungen zugute, die von der Rechtsprechung im Interesse einer Waffengleichheit zwischen Patienten- und Ärzteseite entwickelt wurden, erläutert die Euskirchener Rechtsanwältin Astrid Maigatter-Carus, die seit über zehn Jahren die Interessen geschädigter Patienten vertritt und der Stiftung beratend zur Seite steht. »Diese Beweiserleichterungen fuhren immer wieder dazu, dass im Zivilrecht eine Verurteilung erreicht werden kann, während auf strafrechtlicher Seite bereits eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft erfolgt ist.«

Auch die erfahrene Anwältin Maigatter-Carus rät Geschädigten in den meisten Fällen vom Gang zum Staatsanwalt ab: »Wenn der Arzt strafrechtlich verurteilt ist und nur 500 Euro Strafe zahlen muss - wem nützt das?« Stattdessen könnten Schadensersatzsummen den betroffenen Familien ein einigermaßen würdiges Weiterleben nach der medizinischen Katastrophe sichern. »Hier lässt sich zivilrechtlich viel mehr für den Patienten herausholen«, sagt die Juristin. So erhielt beispielsweise eine von der Alexandra-Lang-Stiftung unterstützte Familie, deren Sohn infolge eines Fehlers bei der Geburtseinleitung schwer geschädigt ist, eine Schadenersatzzahlung in Höhe von einigen hunderttausend Euro.
Da das ungeborene Kind im Wachstum zurückgeblieben war, musste mit einer Risikogeburt gerechnet werden. Ein Fall für das Krankenhaus, eigentlich Routine. Normalerweise wird bei jeder Schwangeren sofort nach der Aufnahme ein intravenöser Zugang gelegt, um im Notfall eventuell ein wehenhemmendes Mittel oder ein kreislaufstärkendes Präparat verabreichen zu können. Nicht aber in diesem Fall, die Hebamme hatte es unterlassen. Außerdem sollte bei einer Risikogeburt der Zustand der Schwangeren ständig überwacht werden. Doch die Hebamme hatte mit der simplen Erklärung »erstes Kind, das dauert« den Kreißsaal verlassen. Die Schwangere samt Ehemann waren allein. Ein folgenschwerer Fehler.
Als die Geburt einsetzte, war immer noch keine Hebamme oder Arzt in Sicht. Und es kam noch schlimmer. Der Wehenschreiber zeigte einen Abfall der Herztöne an. Der verzweifelte Ehemann suchte die Hebamme - zunächst vergebens. Denn die saß auf einer anderen Station beim Kaffee und plauderte mit Kolleginnen. Als sie endlich wieder im Kreißsaal auftauchte und ein wehenhemmendes Medikament injizieren wollte, ging dies zunächst auch nicht, denn die Hebamme musste erst einen intravenösen Zugang legen. Bis zur Verabreichung des Medikaments vergingen für das Ungeborene lebenswichtige Minuten. Erst eine halbe Stunde später alarmierte die Hebamme dann endlich einen Arzt. Als der das Kind mit einem Kaiserschnitt holte, atmete es nicht mehr. Mit einer Reanimation konnte das Baby dem Tod noch einmal entrissen werden, doch es hatte infolge des Sauerstoffmangels einen schweren Hirnschaden erlitten.
Seither ist der Junge schwerstbehindert. Heute, im Alter von zwölf Jahren, ist er auf den Rollstuhl angewiesen, hat motorische Störungen und zeigt autistische Züge. Die Zähne kann er sich nicht selbst putzen, er würde sich die Zahnbürste in den Rachen stoßen. Es treten immer wieder epileptische Anfälle auf, die mit einem Notfallmedikament behandelt werden müssen, um eine weiter gehende Hirnschädigung zu vermeiden. Infolge des Hirnschadens sind die Steuerungsmechanismen des Kindes gestört. Dies führte zum Beispiel dazu, dass der Junge während eines Spaziergangs einen Betrunkenen attackierte, der ihm aus Versehen Bier auf die Kleidung geschüttet hatte.
Ein Gespräch über derlei Vorfälle sind mit dem Jungen nicht möglich, da er sich später nicht erinnern kann. Ulrike Zunker, die Ärztin der Alexandra-Lang-Stiftung, fasst ihre Erfahrungen mit dem Jungen so zusammen: »In der von ihm besuchten sozialtherapeutischen Praxis spielt er mit zwei Bällen, der eine rot, der andere schwarz. Würde einer von ihnen gegen einen gelben Ball ausgetauscht - der Junge wäre total verunsichert, er könnte damit nicht umgehen. Der Therapeut trägt immer eine bestimmte Kleidung. Als T. ihn in Begleitung seiner Mutter einmal privat besuchte, öffnete er die Türen in kurzen Hosen.T. war noch Tage später irritiert.« Für die Eltern wurde das Leben durch die groben Nachlässigkeiten der Hebamme zu einem Drama. Die Schmerzensgeldzahlung ersetzt keine juristische Genugtuung, doch hilft sie bei den vielen Anschaffungen, die bei der Pflege eines Schwerstbehinderten Kindes notwendig werden. Lebensqualität gibt die Summe nicht zurück. Und bedenkt man den langen Zeitraum der Zusatzausgaben, ist der Zeitpunkt absehbar, an dem der Betrag aufgebraucht sein wird.
Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte sind selten Experten in medizinischen Details. Umso wichtiger ist bei Prozessen die Rolle medizinischer Gutachter. Und hier kommt es zu einem weiteren Problem im juristischen Alltag für Arztpfusch-Opfer: Gutachter und Klinikärzte kennen sich immer wieder aus gemeinsamen Gremien. In diesem Zusammenhang bekommt ein Satz des britischen Literaturnobelpreisträgers Georg Bernard Shaw eine neue Dimension: »Ärzte sehen eher zu, wie ein Kollege einen ganzen Landstrich dezimiert, als gegen den Berufskodex zu verstoßen und gegen ihn aufzutreten.« Elmar Kordes vom Privaten Netzwerk Medizingeschädigter fordert: »Wir brauchten staatliche Ärzte, die keiner Lobbyistenorganisation Rede und Antwort stehen müssen, die keine Angst haben, Kollegen Rede und Antwort zu stehen.« Derzeit hätten es wirklich unabhängige Gutachter nicht leicht: »Man kennt sich. Um nicht als Nestbeschmutzer dazustehen, wer soll da denn ein vernünftiges Gutachten machen?«

zitiert aus
„ÄRZTEPFUSCH: DER LANGE WEG ZUR GERECHTIGKEIT“

Copyright-Vermerk "Aus: Jürgen Roth/Rainer Nübel/Rainer Fromm: Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz. Eichborn AG, Frankfurt am Main 2007. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Eichborn Verlags."

>>zur Presseseite der Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte

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